Per Schleudersitz zur Komfortzone raus

Wann hast du zum letzten Mal so richtig Mut gebraucht? Die unterschiedlichsten Dinge können uns ganz viel Mut abverlangen. Beim Nachbarn klingeln. Einen lange vor sich hin geschobenen Anruf tätigen. Am Morgen aufstehen. Einen neuen Job annehmen. Sich öffnen und persönliche Dinge preisgeben. Kinder bekommen. Beichten. Oder was auch immer…

Ich habe so richtig Mut bewiesen. Und nun bin ich stolz, dass ich es geschafft habe. Mich überwunden zu haben, hinterlässt ein gutes Gefühl. Aber beginnen wir von vorne: Es ist ja schon nur mutig, Mutter zu werden. Mit keinem Gedanken konnte ich ahnen, wie viel Mut dieses Würmchen in meinem Arm mir noch abverlangen würde. Und wie oft ich meine Grenzzäune noch mal würde weiter stecken können. Zu Beginn kriechst du mit deinen Kids im Sandkasten rum. Du rutschst eine Rutsche hinab. Und du nimmst dein altes Velo wieder aus dem Keller. Im Winter rumpelst du mit Schlitten oder anderen geeigneten Flugobjekten den Schneehang hinunter. Alles noch relativ harmlos. Aber wenn du Teenager hast… oha… da wird dir ganz schön viel abverlangt. Da sind es dann so Dreiräder-Maschinen mit denen du in halsbrecherischer Manier eine Rumpelpiste den Berg hinunter bretterst. Oder beim Ski fahren stehst du mit angstvoll aufgerissenen Augen oben an der roten Piste, vom Rest der Familie siehst du nur noch eine Staubwolke. Seilpark und Riesentrampoline stehen auf dem Ausflugsprogramm. Die meisten Aktivitäten werden begleitet von lauter Musik, die deinen Herzschlag durcheinanderbringt, als wäre da ein Herzschrittmacher direkt an der Musikbox eingestöpselt.

Meine Grosse hat eine taffe Leidenschaft: Klettern und Bouldern. Auch meine Männer sind angetan. Ich unterstütze das Ganze, so lange es im sicheren Rahmen einer Halle stattfindet. Und so lange ich gemütlich in der passiven Rolle bleiben kann. Schön in meiner Komfortzone. Nun haben wir aber letzthin ein Familienpicknick unternommen. Unweit von hier hat es tolle Felsen mit Kletterhaken. Es sind nicht so richtig hohe Berge, es kann dir also kaum ein Stein auf den Kopf fallen. Immerhin. Aber klettern kann man da gut. Ideal für Einsteiger. Naja, ich fasse mich kurz: Jeder kam dran. Auch ich fand mich wenig später mit Herzflattern angeseilt im Felsen wieder. Es kostete mich viel Überwindung. Gleichzeitig ging ein Kindheitstraum von mir in Erfüllung. Diese Möglichkeit hatte ich leider als Teenager nie. Deshalb habe ich mir gut zugeredet: «Komm schon, mach das, überwinde dich. Du hättest es geliebt damals. Jetzt hast du die Möglichkeit.» Rauf war nicht das Hauptproblem. Da schaute ich ja auch nur nach oben. Aber oben angekommen – was nun? Ich habe gejammert und die Hände verworfen. Und ich wollte aus dem Klettergurt aussteigen und auf der anderen weniger steilen Seite ungesichert hinunterklettern. Doch es half nichts. Ich musste mich voll ins Seil hängen. Ganz «relaxt zurücklehnen und hinunter spazieren», wie meine Tochter mich coachte. Boah, krasses Pferd… sich einfach reinhängen und vertrauen, dass Töchterchen die Sicherung im Griff hat… Doch tatsächlich: Je relaxter ich mich ins Seil lehnte, desto besser gelang der Abstieg. Unten angekommen freute ich mich so darüber, dass ich es geschafft hatte. Dass es mir gelungen ist, mich zu überwinden. Und dass ich noch lebte. 😊 Ein richtiges Erfolgserlebnis.

Wie oft ist es im Leben am einfachsten, es sich in der Komfortzone gemütlich zu machen. Da lässt es sich gut leben. Doch da verpasst man ganz schön viel! Ich hätte diese intensiven Emotionen nicht erlebt. Diese Erfahrung stärkte mein Vertrauen in meine Fähigkeiten. Erweiterte meine Grenzen. Und ich erlebte Selbstwirksamkeit. In der Komfortzone ist Weiterentwicklung unmöglich. Da wo wir uns in die Lernzone vorwagen – und es ist oft wirklich ein Wagnis – da geschieht etwas. Die Lernzone wird nicht umsonst auch Wachstumszone genannt. Sie birgt ein gewisses Risiko. Etwas kann uns auch überfordern. Doch wenn die Herausforderung gemeistert wird, wachsen wir und erweitern schlussendlich auch unsere Komfortzone.

Es gibt auch noch die dritte Zone: Die Panikzone. Hier ist es aber dann wirklich ungemütlich. Ich erlebte diese auch kurz: Ganz dumm, wenn du im steilsten Stück Felsen hängst und denkst: «Wenn das Seil jetzt reist, dann bin ich weg.» Es gibt keinen dümmeren Zeitpunkt, sich dies zu überlegen. Das habe ich mir dann auch gesagt. Und bin aus der Panikzone zurück in die Lernzone gekraxelt. Wie gut, dass ich die Möglichkeit habe, meine Gedanken zu steuern und zu sagen: «Sula, so ein Scheiss. Hör auf, das ist ein dummer Zeitpunkt dazu. Das Seil wird halten.»

Zurück zu den Teenagern. Sie spedieren ihre Mütter per Schleudersitz ständig zur Komfortzone raus. Das ist auch gut so und hält frisch. Und doch gibt es da auch Tage, da ist dann meine Antwort: «Hey Leute, das ist mir jetzt echt zu viel, heute bleibe ich gemütlich in meiner Komfortzone.»


 

 


 

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rückblick 2023

Zu Grenzen stehen

Stressabbau durch Winterzauber