1000 Eindrücke im Gottesdienst

Ich sitze im Gottesdienst. Die Predigt ist gut. Ich nehme interessante Aspekte mit. Gleichzeitig ploppen Gedanken zum Thema auf. Erinnerungen. Bilder. Und mir fällt auf, vorne im Raum liegt Material herum. Das müsste mal weggeräumt werden. Das Vorprogramm des Gottesdienstes war sehr bewegend. In mir sind noch viele Emotionen. Auch diejenigen der Anwesenden. In Fetzen blieben sie an meinem Herz hängen. Eine junge Frau ist mir aufgefallen. Es geht ihr nicht gut. Das spüre ich. Sie verlässt den Raum. Soll ich ihr nach oder kümmert sich jemand um sie, der ihr näher steht? Eine andere Frau hat sich heute ganz zum Fenster gesetzt. Sie ist vorsichtig, möchte sich keinen Coronavirus einfangen. Ganz unsensibel wurde sie zu Beginn darauf hingewiesen, sie könnte sich doch in die Mitte setzen, statt so an den Rand. Von einer Frau, die wohl nicht auf die Idee gekommen ist, dass es Leute gibt, denen es am Rand vielleicht wohler ist. Eine Frau, die einfach automatisch von sich auf andere schliesst. Dieses mangelnde Gespür macht mich wütend. Diese negative Emotion rumort noch etwas in mir.

Ein Baby beginnt zu weinen. Ich kann der Predigt nicht mehr folgen. Oh, so ein herziges kleines Buebli. Ich mag Kinder. Doch sobald sie hörbar sind, liegt mein Fokus unweigerlich auf dem Geräusch. Ausblendung ist schwierig. Langsam wird es ungemütlich hinter meiner Maske. Die Schleimhäute trocknen aus, sehr unangenehm. Ich lutsche ein Bonbon. Und sehne mich nach frischer Luft. Mein Blick fällt auf das Mischpult. Da muss ich nachher noch einen Stick formatieren für die nächsten Aufnahmen. Mein Blick schweift weiter über die Runde. Die Masken irritieren mich. So kann ich all die Menschen viel weniger gut wahrnehmen. Ich sehe sie nicht. Ich sehe nur ihre Masken.

Der Gottesdienst ist zu Ende. Ich liebe es, mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Aber am besten zu zweit und nicht nur oberflächlicher Smalltalk. Ich habe ein paar Personen auf dem Radar. Es ist laut im Raum. Die Menschen gruppieren sich. Alle reden noch etwas lauter mit Maske und mit Abstand, damit sie verstanden werden. Farben. Geräusche. Kindergeschrei. Gerüche. Konflikte, die ich fühle. Fragen, die sich stellen. Ich stehe da. Alleine. Überfordert. Verloren. Ich rede mir gut zu. Ich weiss, das ist nicht meins, diese Menge (auch wenn es im Moment nur 50 sind). Und das darf auch so sein. Mein Moment kommt an einem anderen Ort. Im Zweiergespräch. Ich gestehe mir diese Gefühle von Überforderung und Verlorenheit zu. Es ist ganz normal, dass ich in dieser Situation so empfinde. Früher dachte ich, ich sei falsch und es müsste anders sein. Heute weiss ich: Ich habe weniger Filter. Und nehme deshalb so viele Reize auf. Das macht das Leben anstrengend. Aber auch reich. Es gibt Situationen – wie nach dem Gottesdienst – da ist das echt schwierig. Aber in persönlichen Begegnungen kann ich aus einem breiten Schatz an Wahrnehmung, Einfühlsamkeit und Tiefe schöpfen. Auch im Unterwegssein mit mir selber und mit Gott ist mir diese hochsensible Veranlagung ein grosser Gewinn.

Zurück zur Situation im Gottesdienst. Ich möchte nach Hause. Doch mein Mann geht in der Menge auf und denkt ganz bestimmt noch nicht daran aufzubrechen. Also muss ich da durch. Ich überwinde mich. Begebe mich an einen ruhigeren Platz am Rand. Entdecke eine junge Frau, die da auch gerade alleine steht. Ich spreche sie an. Und sie erzählt mir aus ihrem Leben. Ich darf Anteil nehmen. Sie ermutigen. Einblick in ihr Herz erhalten. Was für ein Geschenk. Die Eindrücke davon nehme ich mit. Sie begleiten mich. Am Ausgang schnappe ich ein paar Gesprächsbrocken auf. Sie werden mich noch eine Weile beschäftigen. Zuhause angekommen, kochen wir gemeinsam Zmittag. Ich bin ganz geschafft. Der Lärmpegel der Familie ist schwer zu ertragen. In meinem Kopf schwirren Gesprächsfetzen. Stimmungen. Gedanken. Impulse. Alles wild durcheinander. Ich brauche etwas Ruhe. Einen Spaziergang. Dann wird sich alles setzen und seinen Platz finden.


 

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